Es gibt ja auch noch heute Menschen, die behaupten, der Ahorner Kirchturm sei schief. Man müsse nur lange genug unentwegt auf ihn Hinblicken, dann würde man es bemerken.
Daß er hingegen früher einmal schief war, das berichtet eine alte Überlieferung, in der sich Wirklichkeit und Sage innigst verbinden. Hier die Erzählung; entsprechend ausgeschmückt liefert sie einen abendfüllenden Vortrag:
Schon beinahe 10 Jahre tobte der Krieg, über 20 Jahre sollte er noch dauern, doch die Kampfplätze lagen im Böhmen, in der Pfalz und in Norddeutschland. In Ahorn merkte man davon wenig, außerdem war das Fürstentum Sachsen-Coburg — dank der Friedenspolitik seines Herzogs Johann Casimir - neutral.
So gingen denn an einem Vormittag im Herbst des Jahres 1627 einige junge Männer auf den Sandberg, um dort Holz für den Winter zu schlagen. Sie waren ungemein heiter, hatten sie doch eben erst im Dorf die alte „Günzlarn" so richtig nach Herzenslust beschimpft. Sie, die als Hexe verschrieen war, hatte ihre Fäuste geballt und den Burschen gedroht, sie werde es ihnen schon zeigen.
Die Männer waren noch nicht lange an der Arbeit, da erhob sich ein Sturm, der zum Orkan anschwoll. Voller Angst flohen sie vor den stürzenden Bäumen aus dem Wald, um in Gräben und Mulden das Ende des Sturmes abzuwarten. Dann holten sie ihr Werkzeug und gingen ms Dorf zurück, denn auch hier mußte der Sturm schwere Schäden angerichtet haben.
Sie hatten aber das erste Haus noch nicht erreicht, da lief ihnen doch die alte Günzlarn wieder über den Weg. Nun war es ja klar, wer das Wetter hergehext hatte! Sie stürzten sich auf die alte Frau und hätten sie vielleicht gar erschlagen, hätte diese nicht geschrieen, sie sollten ja acht geben: sie hätte noch einen ganzen Sack voll Wind; wenn sie den loslasse, stürze der Turm ganz ein. Diesmal sei es nur eine Warnung gewesen und zur Erinnerung daran stehe der Turm nunmehr schief.
Voller Schrecken sahen die Männer zum Kirchturm und wirklich, seine Spitze neigte sich zur Seite. Von Angst und Grauen gepackt schlichen sie nach Hause.
Natürlich konnte das alles nicht verborgen bleiben, und bald wußte man auch in Co-burg über die Günzlarn Bescheid. Sie wurde verhaftet, der Hexerei beschuldigt und angeklagt. Nach peinlichen Verhören — das ist die Umschreibung für die Anwendung der Folter - gestand sie, eine Hexe zu sein. Dieses Geständnis brachte ihr ein „gnädiges" Todesurteil ein: „Am 19. März 1628 wurde Anna Günzel aus Ahorn mit dem Schwerte gerichtet und dann verbrannt."
Nun war zwar, wie wir heute glauben dürfen, dieses Problem zur Zufriedenheit der Ahorner gelöst, doch immer noch ragte der Kirchturm schön spitz, aber schief, in den Himmel. Der Anblick war ein ständiges Ärgernis, dem abgeholfen werden mußte. Nach einigem Hin und Her erbot sich der Schäfer, den Turm wieder zu richten. Mit einem langen Seil ging er ans Werk. Das eine Ende schlang er um die Kirchturmspitze, das andere drüben am Hühnerberg um den Stamm einer gewaltigen Eiche. Dann forderte er die Jungen und Mädchen des Dorfes auf, an dem Strick zu ziehen, es sei ein Wunderstrick. Vereint mit ihrem Schulmeister Georg Müller zogen sie, und zogen, und würden heute noch ziehen, wäre der Turm nicht in seine gerade (oder fast gerade?) Lage gerückt.
Der „Wunderstrick von Ahorn" war lange Zeit die größte Sehenswürdigkeit des Ortes. Er lag auf dem Dachboden der Kirche. Weil aber das Betreten des Dachbodens verboten ist, hat ihn seit Generationen niemand mehr gesehen. Besuchern mußte so Ersatz geboten werden. Und so wurden ganz einfach das Epitaph in der Kirche und die Wendeltreppe im Schloß zu Sehenswürdigkeiten erklärt. -
Anmerkung: Der Orkan des Jahres 1627, der Hexenprozeß mit dem o. a. Urteil und der Name des Schulmeisters sind geschichtlich verbürgt. Die übrige sagenhafte Erzählung kennt verschiedene kleine Änderungen.
Quelle: Walter Schneider: Das Coburger Land; Herausgeber: Landkreis Coburg; 2. Auflage 1990