In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, als Napoleon ganz Europa erobern wollte, litt auch Coburg mit seinen damals 7000 Einwohnern unter den Durchzügen der fremden Truppen, der Proviant-, Bagage- und Munitionswagen. Ganze Regimenter musste die Stadt aufnehmen. Franzosen, Preußen, Italiener, Nassauer, Darmstädter, Bayern, Württemberger, Badenser, Österreicher und sogar Russen kamen hier durch. Die Munitionswagen mit ihrer gefährlichen Ladung waren bei den Einwohnern sehr gefürchtet. So erschienen am 12. Oktober 1806 Darmstädter Truppen unter Führung eines französischen Offiziers mit 11 Munitionswagen. Preußische Husaren erhielten davon Kenntnis und eroberten im Handstreich neun Wagen. Zwei Wagen konnten sie nicht mitnehmen und wollten sie deshalb in die Luft sprengen. Das hätte verheerende Folgen für Coburg gehabt. Aber es gelang einigen beherzten Einwohnern der Vestestadt, die beiden Pulverwagen bei der Heiligkreuzbrücke in die Itz zu werfen. Daß die Heiligkreuzkirche während der Kriegswirren sogar monatelang
als Militärmagazin diente, ist heute nicht mehr vorstellbar. Immer wieder sorgten gefährliche Durchzüge für Aufregungen unter der Bevölkerung. Die Nachricht, dass im Jahre 1810 in Eisenach drei französische Munitionswagen in die Luft flogen und dabei 28 Häuser abbrannten und 60 Menschen starben, zwang die Coburger Ratsherren zum Handeln, denn ein Ende der Kriegsereignisse war nicht abzusehen. Und so wurde im Jahre 1812 eine Umgehungsstraße gebaut. Die Kosten betrugen 3867 Gulden (etwa 3300 Euro). Bald sollte sich der Aufwand lohnen, denn schon ein Jahr später zogen 36 Kanonen mit Pulverwagen über den neu geschaffenen Weg, gefolgt in einigen Wochen darauf von weiteren 28 Geschützen. Am 3. Juni 1814 passierten mehrere Batterien den Weg und wieder ein Jahr darauf zog ein Artilleriepark von 12 Sechzehnpfündern nebst Munitionswagen durch die neue Straße, die noch keinen Namen hatte. Was lag da wohl näher, sie geraume Zeit nach den Kriegsereignissen „Kanonenweg“ zu nenne. Der Name der zweiten Coburger Umgehungsstraße
hat sich bis heute erhalten. Die erste Umgehungsstraße erhielt Coburg aber bereits während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), nämlich den Neuen Weg. Der damals regierende Herzog Franz Josias von Sachsen-Coburg-Saalfeld war zwar in diesem Krieg neutral, konnte aber die Durchzüge aller möglichen Kontingente nicht verhindern. Um die Stadt von Durchmärschen zu verschonen, wurde damals auf Veranlassung des Coburger Prinzen Christian Franz, einem jüngeren Sohn des Herzogs, der Neue Weg gebaut, der heute wieder, jedoch aus Gründen des Autoverkehrs, auf einem Abschnitt die Rolle einer Umgehungsstraße, der Coburger Stadtautobahn, spielt. Nun zurück zum Kanonenweg. Als dieser angelegt wurde, war dort das Gelände nördlich der Stadt fast gänzlich unbewohnt. Aus der Stadt heraus nach Eisfeld zu führte damals nur ein Weg, die heutige Kasernenstraße, einst sogar nur ein Hohlweg. Ein paar Ziegelhütten und die bereits im Jahre 1453 erwähnte Schleifmühle, welche sich auf dem Gelände der Firma Sagasser am Schleifweg befand,
waren in diesem Bereich des Kanonenwegs die einzigen Häuser. Ehe der Name sich einbürgerte, wurde hier die Gegend wahrscheinlich „im Außendorf“ genannt. Daraus bildete sich allmählich durch Zusammenziehung der beiden Wörter das Wort „Maußendorf“, das längere Zeit als volkstümliche Bezeichnung gebräuchlich war. Es wohnten dort biedere fleißige Bürger und Landwirte in bescheidenen, meist einstöckigen Wohnhäusern, die nach und nach um 1860 neu entstanden. Grund für die Bebauung war eine Wohnungsnot, unter der Coburg in der Mitte des 19. Jahrhunderts litt. Der Magistrat suchte auf jede Art und Weise die Bautätigkeit zu fördern und stellte zu diesem Zweck auch am Kanonenweg Bauplätze zur Verfügung. Jeder Nichtbürger, der damals ein Haus in einem Stadtbezirk baute, erhielt für sich und seine Familie das Bürgerrecht. Der Eisenbahnbetrieb und die industrielle Entwicklung belebten nach 1860 weitere Bautätigkeit im Norden der Stadt. In der Gegend der heutigen Heiligkreuzschule lag der Bleichanger, eine große
grüne Fläche, auf der die Hausfrauen ihre Wäsche trockneten und bleichten. Viele kleine Hütten für Regenschutz und Nachtwachen standen dort am Ufer der Lauter. Diese bot dort bis zum Jahre 1912, ehe die Bahnanlagen und die Callenberger Unterführung gebaut wurden, eine örtliche und technische Merkwürdigkeit. Sie floss damals rechts und links der Callenberger Straße. Der Fluss (mit Blick in Richtung Neuses) war der natürliche Lauf der Lauter, der Fluss rechts ein abgeleiteter Mühlgraben. Beide kreuzten sich am Westende des Kanonenwegs, bei einem Wehr. Der Mühlgraben floss über die Lauter hinweg. Mit der Namensnennung der Kreuzwehrstraße hat dies aber nichts zu tun. Der Kanonenweg, dessen Früh- und Namensgeschichte hier in diesem Artikel veröffentlicht wurde, hat sein Gesicht im Laufe von bald 175 Jahren immer wieder verändert. Dies ist eben der Lauf der Zeit.
Bildquellen:
Bild 1: Coburger Stadtplan von 1844. An der Ecke oben links ist weit außerhalb der Stadt der Kanonenweg eingezeichnet. (Sammlung Christian Boseckert)
Bild 2: Eines der ersten Wohnhäuser im Kanonenweg war das Haus Nr. 30, ein landwirtschaftliches Anwesen des Ökonomen Andreas Boseckert.(Foto: Christian Boseckert, 2007)
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Bild 4: Das ehemalige Wasserwerk an der Lauter trägt die Adresse Kanonenweg 46 (Foto: Christian Boseckert, 2007)
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