Der vorliegende Aufsatz stammt aus den Coburger Geschichtsblättern, Jahrgang 2016.
Einleitung
Dieser Aufsatz befasst sich mit der Zeit, die Detlev J. K. Peukert einmal die „Krisenjahre der Klassischen Moderne“ bezeichnete: Die Weimarer Republik. Ein Bundesstaat dieser Weimarer Republik war bis 1920 der Freistaat Coburg, der aus dem Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha entsprang. In jenem Jahr schloss sich dieser nach einer Volksbefragung dem Freistaat Bayern an. Für die Bewohner der einstigen Residenzstadt Coburg muss der Anschluss mit einer Neuformung ihrer Identität einher gegangen sein. Die Heiratspolitik des Herzogshauses, welche fast die gesamte Welt umfasste, machte den Ort international bekannt. Den Namen „Coburg“ trugen u.a. die britische Königin Victoria (1837-1901) oder Leopold I. (1790-1865), der erste König der Belgier. Jetzt, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, stürzte seine Bedeutung zu der einer bayerischen Provinzstadt herab. So muss sich die Krise der Moderne, die auf einer Auseinandersetzung zwischen Bewahrern und Modernisieren beruhte, für Coburg besonders stark ausgewirkt haben. Freilich war der 526 Quadratkilometer große Freistaat finanziell nicht überlebensfähig. Im Zuge des modernen Phänomens der Rationalisierung war sein Anschluss an ein größeres Staatsgebilde notwendig. Doch diese Problematik zeigt deutlich, welche Konfrontationslinien sich in Coburg auftaten. Und diese sollten für die Stadt weitreichende Konsequenzen haben. Im aufkommenden Nationalsozialismus, der erstmalig 1922 in der Person Adolf Hitlers und seiner SA beim „Dritten Deutschen Tag“ in Coburg auftrat, sah man die Lösung des Problems: Die Rückführung zum alten Glanz der Residenzstadt und damit die Überwindung der Moderne, die über die Stadt hereinbrach. War aber die ruhmreiche Vergangenheit Coburgs ihren Bewohnern 1922 wirklich noch so präsent, dass derartige Konflikte ausbrachen und die Bürger ihr Heil im Nationalsozialismus sahen?
Die Arbeit beschreibt zunächst Kontinuitätslinien zwischen der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, die hauptsächlich an Personen des kirchlichen und politischen Lebens anknüpfen. Im Kontext dazu wird auf die Entstehung von Kriegervereinen und Wehrbünden im Dunstkreis der völkischen Bewegung Bezug genommen und auf Modernisierungsprozesse eingegangen. Der dabei behandelte Zeitraum liegt zwischen 1918 und 1922. In der Gesamtbetrachtung ist jedoch unerlässlich, einen Blick in das alte Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha zu werfen, das zwischen 1826 und 1918 existierte. Auch ein Ausblick bis 1929, in welchem die Coburger Nationalsozialisten bei der Stadtratswahl erstmals im Deutschen Reich die absolute Mehrheit erhielten, ist Teil dieser Darstellung.
Es gilt dabei zu klären, welchen Einfluss diese Kontinuitäten auf die einfache Bevölkerung besaßen und ob es überhaupt welche gab? Welche Rolle spielte der letzte regierende Herzog Carl Eduard in dieser Entwicklung? Und wie verhalten sich diese Kontinuitäten gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus? Der Aufsatz will belegen, dass gerade diese Würdenträger den Eindruck bei der Coburger Bevölkerung erweckten, dass das alte Herzogtum nie untergegangen sei. Dies stand völlig konträr zur Realität. Je stärker sich die Moderne bemerkbar machte, suchten die Coburger den Ausweg in der Vergangenheit und damit ihre Vertreter, die immer noch gehörigen Einfluss ausübten. Schlussendlich war es das politische Angebot Hitlers, angefangen von der Wiedereinführung der Monarchie bis zum Aufräumen des politischen Chaos in der Weimarer Republik, welche die Coburger schon früh zu Anhängern der Nationalsozialisten machten.
Zur chronologischen Erschließung des Themas ist zunächst eine Beschreibung der sozialen und politischen Verhältnisse in der alten Residenzstadt Coburg vor 1918 nötig, wobei auch auf die Bedeutung der Herzogshauses eingegangen wird. Im zweiten Kapitel werden die Wendepunkte der Coburger Landesgeschichte zwischen 1918 und 1920 beleuchtet. Das dritte Kapitel will indes eine Kontrastierung von alten Machteliten und der neu erwachsenen völkischen Bewegung darstellen. Im letzten Teil kommt es dann zur Konfrontation mit Hitler und seiner Partei und die Auswirkung seiner Machtdarstellung auf die Coburger nach dem Dritten Deutschen Tag von 1922.
Vorgeschichte
Am 19. April 1894 geriet Coburg zum Schauplatz einer Fürstenhochzeit. Die Tochter des Herzogs Alfred von Sachsen-Coburg und Gotha (1844-1900), Victoria Melita, heiratete Großherzog Ernst-Ludwig von Hessen-Darmstadt. Zu dieser privaten Feier kam die Verwandtschaft des Brautpaares nach Coburg: die britische Königin Victoria, Kaiser Wilhelm II., oder der russische Zar Nikolaus II. Die vermeintlich mächtigsten Personen dieses Planeten versammelten sich in einer kleinen Stadt mit rund 20.000 Einwohnern. Die Coburger Heiratspolitik, deren Ursprünge ins späte 18. Jahrhundert zurückgingen, stand auf ihren Höhepunkt. Die Vestestadt schien für eine kurze Zeit das Zentrum der Welt zu sein. Der Hoffotograf Eduard Uhlenhuth hielt eine Szene fest, in welcher alle Herrscher sich auf einem Familienportrait zusammenfanden und die sich zur Ikone für Anhänger des Herzogshauses entwickelte. Es gelang u. a. dadurch, die Privatfeier zu einem Treffen der mäch-tigsten Personen der Erde zu inszenieren. Die Coburger glaubten dies, denn dass gerade ihre Stadt solch einen hohen Besuch in seinen Mauern aufnehmen würde, machte sie besonders stolz. Doch die Inszenierung zeigte nur noch eine Illusion monarchistischer Macht. Demokratisierungsprozesse schränkten die politische Macht der Könige im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends ein.„Dieser Schimmer fürstlicher Feiern“, so Thomas Niklas, war „denkbar weit von der gesellschaftlichen Realität in den europäischen Staaten entfernt.“ Das hätten die Coburger jedoch wissen müssen. Waren sie doch in einem der ersten deutschen Staaten, in welchem der Landesherr seine Macht in Form einer konstitutionellen Monarchie beschränkte. Die liberale Tradition der Stadt hielten die Zeitgenossen hoch. Augenscheinlich ließ sich die Bevölkerung, wie auch möglicherweise das Herzogshaus selbst, von dieser höfischen Inszenierung blenden und verfiel dadurch in eine andere Wahrnehmung der Realität, die absolutistische Züge trug. Wenn Ereignisse diese Realität erschütterten, versuchten die Coburger krampfhaft ihren Status als besondere Residenzstadt zu bewahren. Dies belegen vor allem Rationalisierungsmaßnahmen, deren Bestandteil u.a. eine Verwaltungsreform gehörte. Bisher waren die Landesbehörden zu gleichen Teilen auf die beiden Residenzstädte Coburg und Gotha aufgeteilt. Der Grund hierfür lag im staatlichen Aufbau des Herzogtums. Es handelte sich nämlich nicht um einen Einheitsstaat, sondern um zwei Territorien (Sachsen-Coburg und Sachsen-Gotha), die lediglich über einen gemeinsamen Landtag, einer Landesregierung und einem Landesherrn verfügten. Der Aufbau glich einer bundesstaatlichen Ordnung mit den Teilländern Coburg und Gotha, die über separate Parlamente und Regierungen verfügten. Nun plante die herzogliche Landesregierung aufgrund der finanziellen Einsparungen eine Zentralisierung der Behörden mit Sitz in Gotha, der größeren der beiden Residenzstädte. Bereits Herzog Ernst II. bemühte sich um diese sogenannte „Realunion“. Dies löste jedoch bei den Coburgern großen Unmut aus und zwang den für den noch unmündigen Herzog Carl Eduard amtierenden Prinzregenten Ernst von Hohenlohe-Langenburg, die weitgreifende Verlagerung von Behörden nach Gotha zu dementieren. Gebracht hat dieser Unmut im Endeffekt allerdings nichts. Die finanziellen Zwänge verlangten einer Zentralisierung der Behörden.
Während des Kaiserreichs entwickelte sich Gotha fortschrittlicher als Coburg. Industriebetriebe siedelten sich hauptsächlich nördlich des Thüringer Waldes an, während es im gesamten Herzogtum Coburg nur acht Handwerksbetriebe gab, die mehr als 50 Personen bei sich beschäftigten. Auch die Residenzstadt war mit 53 gezählten Kleinfabrikanlagen im Jahre 1898 wenig industrialisiert (Es gab lediglich einige Brauereien, kleinere Korbwarenfabriken und wenige Spezialfirmen), so dass die Ausbildung einer Arbeiterschicht nur in Ansätzen gelang. Im Vergleich zu den agrarisch geprägten bayerischen Nachbargebieten war das Herzogtum Coburg allerdings dann doch industrieller geprägt. Zum größten Teil umgeben von einer landwirtschaftlichen Struktur lässt sich Coburg zu Anfang des 20. Jahrhunderts als eine Beamten-, Pensionärs- und bürgerlich geprägten Handwerkerstadt beschreiben. Die politische Einstellung der Bewohner lag am ehesten zwischen bürgerlich liberal, ländlich konservativ und nationalkonservativ, aber kaum sozialdemokratisch oder gar sozialistisch. Bei den Reichstagswahlen im Kaiserreich erhielt der Kandidat der Nationalliberalen meist – mit wenigen Ausnahmen – die Mehrheit des Wahlvolks. Diese Grundstellung spiegelte sich auch im Coburger Landtag und der Stadtverordnetenversammlung samt Magistrat wieder. An der Spitze des Landtages stand seit 1904 der Fabrikant Max Oscar Arnold (1854-1938) aus Neustadt bei Coburg, der dem Gremium bereits seit 1884 als Abgeordneter angehörte. Er war Mitglied der Freisinnigen Volkspartei und nach 1919 deren Nachfolgepartei, der Deutschen Demokratischen Partei. Seine politische Einstellung entsprach allerdings einer Minderheit im Coburger Landtag. In Coburg lenkte seit 1897 der studierte Verwaltungsjurist Gustav Hirschfeld (1857-1938) die Geschicke der Stadt. Hirschfeld selbst stammte aus Kassel und trat 1887 in Coburg als Kämmerer in städtische Dienste ein. Von 1894 bis 1897 fungierte er als Zweiter Bürgermeister. Er gehörte auch dem Coburger Landtag, jedoch keiner politischen Partei an. Beide Personen stehen für Kontinuität im Amt während des Kaiserreiches. Solche Kontinuitäten blieben jedoch keine Selbstverständlichkeit. Besonders in den Positionen des Landrates und des Coburger Staatsrates gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts häufige personelle Wechsel. In manchen Fällen wechselten Personen auch nur ihre Ämter.
Die evangelische Coburger Landeskirche legte dagegen Wert auf Kontinuität. Sie spielte eine große Rolle im öffentlichen Leben. Das kam nicht von ungefähr. So zählte man 1925 einen Anteil von 90% Protestanten an der Gesamtbevölkerung, während die Katholiken mit 7,3% und die Juden mit 1,3% eine Minderheit darstellten. Oberhaupt der Landeskirche war der Herzog (summus episcopus). Ihm zur Seite stand ein Generalsuperintendent. Nachdem das Amt seit 1908 unbesetzt blieb, wählte die Synode der Coburger Landeskirche im Jahre 1920 den Theologen Georg Kükenthal (1864-1955) in diese Position. Er stammte aus Weißenfels (Königreich Sachsen), studierte in Tübingen und Halle, und kam schließlich 1885 nach Coburg, wo er zunächst einige Dorfpfarreien im Umkreis übernahm. Nach der Ernennung zum Oberpfarrer von St. Moritz, wählte man ihn 1914 zum Superintendenten. Kükenthals politische Einstellung ist schwer zu ermitteln. Seine Neigung zu Botanik, Heimatkunde und -pflege lässt ihn am ehesten in der Nähe zivilisationskritischer Strömungen und damit als Fortschrittskritiker vermuten. Auf der anderen Seite stritt er für die liberale theologische Ausrichtung der Landeskirche und stand damit in Opposition zu Herzog Carl Eduard, der eher dem orthodoxen Luthertum den Vorzug gab. Die Kirche selbst unterschied sich in ihrer politischen, monarchistischen Einstellung nicht vom Rest der Bevölkerung. Das trat erst im Zuge der politischen Radikalisierung in Coburg Anfang der 1920er Jahre verstärkt zu tage, als zwei Landpfarrer sich stark in der völkischen Bewegung engagierten.
So blieben die Verhältnisse im Herzogtum viele Jahre unangetastet: Zum einen die offenkundige Verehrung der Coburger Bevölkerung zum Herzogshaus, das für Kontinuität in einer weltweit bedeutenden Residenzstadt stand. Diese Kontinuität wirkte sich teilweise in der Besetzung der öffentlichen Ämter aus. Und zum anderen hielt sich bei dem seit 1900 im Amt befindlichen Herzog Carl Eduard das Bewusstsein, Oberhaupt eines der bedeutendsten Herrschergeschlechter der Welt zu sein, was sich schließlich in der pseudo-absolutistischen Inszenierung des eigenen Hofes widerspiegelte. Auch als der Erste Weltkrieg im August 1914 ausbrach, hielt diese Illusion. Der Krieg fand weit entfernt u.a. in Frankreich und Belgien statt. Die landwirtschaftliche Ausprägung der Coburger Region ließ Hungerkrisen, wie sie in den Kriegsjahren in Deutschland an der Tagesordnung waren, im mildem Licht erscheinen. Die Coburger beschwerten sich eher über die Abgabe von Nahrungsmittel an andere deutsche Staaten. Kritische Stimmen zur allgemeinen politischen Lage im Herzogtum finden sich hauptsächlich im Gothaer Landesteil, welcher sich zu einer Bastion der Sozialisten entwickelt. Hier war man der Realität und der Moderne näher. Umso mehr wurden die Ereignisse des Novembers 1918 zu einem Schock für Herzog und Coburger Stadtbevölkerung. Brach jetzt die Illusion zusammen und die Moderne über Coburg herein?
(Fortsetzung folgt)